
Veränderungen gehören zum Praxis- und Klinikalltag wie Patient*innen und Rechnungen. Dennoch reagieren viele von uns auf Neuerungen mit Anspannung, Ablehnung oder Verzögerung. Das hat gute Gründe: biologisch, psychologisch und sozial. In meinem heutigen Artikel lüfte ich das „Geheimnis“, was hinter dem Widerstand steckt, welche Mechanismen unser Verhalten steuern und wie man als Team oder Führungsperson Veränderungen empathisch und wirksam begleiten kann. - Denn ein „haben wir schon immer so gemacht“ ist in der heutigen Zeit keine sinnvolle Einstellung mehr.
Warum Veränderungen so herausfordernd sind
- Biologisch gesichert: Unser Gehirn ist ein Effizienzorgan. Routinen sparen Energie: bekannte Handgriffe, wiederkehrende Abläufe und Vorhersehbarkeit reduzieren kognitive Belastung. Jede unerwartete Abweichung aktiviert Alarmnetzwerke im Hirnstamm und in der Amygdala, die potenzielle Gefahren signalisieren. Evolutionär machte Vorsicht überlebensfähig, heute erzeugt dieselbe Warnschaltung Stress, wenn etwa eine neue Dokumentationssoftware eingeführt wird.
- Kognitive Ursachen: Veränderung erhöht Unsicherheit. Unsicherheit führt zu mentalen Rechenaufgaben: Was bedeutet das für meine Rolle, meine Zeit, meine Kompetenz, meine Zukunft? Menschen neigen zu Verlustaversion — der mögliche Verlust von Routine, Kompetenzgefühl oder Status wiegt stärker als ein gleich großer Gewinn.
- Emotionale Komponenten: Hinter Widerstand stehen oft Sorgen und Verlustgefühle: Angst vor Überforderung, Schuldgefühle gegenüber Kolleg*innen, die man nicht im Stich lassen will, oder Trauer über eine verloren geglaubte Arbeitsweise. Diese Emotionen sind legitim und wollen gesehen werden.
- Soziale Dynamik: Teams sind soziale Systeme. Veränderungen beeinflussen Machtverhältnisse, informelle Rollen und die gemeinsame Identität. Wenn das Team nicht in die Entscheidung eingebunden wurde, interpretiert es Veränderung als Bedrohung für den Zusammenhalt.
Wusstest du…
- … dass das Gehirn vertraute Abläufe durch sogenannte "chunking"-Prozesse automatisiert, sodass immer weniger bewusste Kontrolle nötig ist? Neue Abläufe müssen zuerst bewusst geübt werden, bis sie in motorische und gedankliche "Chunks" überführt werden.
- … dass Oxytocin nicht nur Bindung unterstützt, sondern auch die Bereitschaft erhöht, Risiken im sozialen Kontext einzugehen? Vertrauen im Team macht Veränderungsbereitschaft messbar größer.
- … dass kleine, positive Rückmeldungen während einer Veränderung die Dopamin-Antwort aktivieren und so Lernbereitschaft und Motivation steigern?
Praktische Tipps für die Praxisführung und Teammitglieder
- Transparenz statt Überraschung
Wenn eine Veränderung ansteht, erkläre den Grund für die Veränderung, die erwarteten Schritte und die konkreten Auswirkungen auf Arbeitsabläufe. Menschen akzeptieren selbst schwierige Maßnahmen besser, wenn sie Sinnzusammenhänge verstehen. - Frühzeitige Einbindung
Binde frühzeitig Schlüsselpersonen ein — nicht nur formal Verantwortliche, sondern auch informelle Multiplikator*innen. Beteiligung erhöht das Gefühl von Kontrolle und reduziert Widerstand. - Kleine Experimente statt großer Knalleffekte
Pilotphasen mit klar definierten Zielen erlauben Korrekturen und schaffen Erfolgserlebnisse. So wird aus Unsicherheit sukzessive Vertrautheit. - Trainings und Begleitung
Plane strukturierte Lernzeiten ein. Übung reduziert Stress, weil Abläufe automatisiert werden. Kombiniere technisches Training mit regelmäßigen Reflektionsrunden: Was lief gut, wo hakt es, welche Anpassungen sind notwendig? - Emotionen benennen
Nicht jede und jeder geht mit Veränderungen gleich gut um. Gib Emotionen und Gefühlen Raum: In Teammeetings oder Supervisionsrunden können Sorgen, Frustration oder auch Trauer ausgesprochen werden. Sichtbar gemachte Emotionen verlieren an Intensität und lassen rationale Lösungen zu. - Sichtbare kleine Erfolge feiern
Feiert Meilensteine bewusst. Selbst kurze Anerkennung erhöht Motivation und verankert neue Routinen. - Ressourcen sichern
Veränderung kostet Zeit. Reduziere daher parallel laufende Projekte, oder gib temporäre Entlastung, damit Neu- und Umlernphasen gelingen können.
Was man sonst noch im tierärztlichen Alltag tun kann
- Priorisieren statt Multitasking
Wenn ein neuer Ablauf eingeführt wird (z. B. digitale Patientendokumentation), reduziere zeitgleich andere nicht dringliche Aufgaben. Reduziertes Multitasking schützt vor Fehlern und Überforderung. - Praxisspezifische Checklisten
Erstelle prägnante, auf individuelle Abläufe zugeschnittene Checklisten und möglicherweise Flowcharts (= was kommt wann?). Kurze visuelle Hilfen erleichtern den Einstieg in neue Routinen während des täglichen Trubels in der Praxis oder Klinik. - Kollegiale Lernpaare
Erfahrenere Teammitglieder können weniger erfahrene Teammitglieder auffangen und ihnen helfen. Auch können sehr veränderungsbereite Personen weniger veränderungsbereite Personen „mitziehen“. Wichtig ist, dass alle eine Geschwindigkeit finden, die für sie passt. Peer-Learning fördert übrigens Vertrauen und erhöht die praktische Umsetzung im Alltag.
Und wenn es Rückschläge gibt?
Rückschläge sind normal und enthalten wichtige Daten und Erfahrungen. Analysiere systematisch: War die Kommunikation klar genug? War die Zeitplanung realistisch? Haben wir benötigte Ressourcen unterschätzt? Nutze die Fehlerkultur als Lernfeld, nicht als Schuldzuweisung. Kleine Anpassungen bringen oft mehr als groß angelegte Korrekturen.
Fazit
Veränderung ist keine technische Herausforderung allein, sondern eine menschliche. Wenn du biologische Mechanismen, emotionale Bedürfnisse und soziale Dynamiken verstehst und respektierst, werden Neuerungen nicht nur durchgesetzt, sondern wirklich nachhaltig ins Team integriert — mit verbessertem Arbeitsklima und erhöhter Leistungsfähigkeit. Veränderungen gelingen dort, wo Menschen gesehen werden, ihre Expertise eingebracht wird und kleine Erfolge sichtbar gemacht werden.


